Nach Manor und Migros im Jahr 2018 hat mit Coop nun bereits der dritte grosse Schweizer Detailhändler ein Vergine-Olivenöl ins Sortiment aufgenommen. Gewichen ist dem "Prix Garantie"-Produkt der in Basel ansässigen Genossenschaft ein Olivenöl der fünften Güteklasse. Während beispielsweise Manor bei den Produkten La Aldea de Don Gil von Aceites Aroden Hispania sowie Gaea und Migros beim Olivenöl der Eigenmarke M-Budget ein Downgrading von "Extra Vergine" zu "Vergine" vollzogen hatten, beschritt Coop den umgekehrten Weg und hat eine Aufwertung des "Prix Garantie"-Olivenöls vorgenommen.
Nicht viele Konsumenten dürften wissen, dass es neben "Extra Vergine" auch noch Olivenöle gibt, die bloss mit "Vergine" gekennzeichnet sind. Das ist kein besonderer Umstand, denn Vergine-Olivenöle gab es in der Vergangenheit in der Schweiz kaum. Das, was die bekanntesten Detailhändler des Landes in ihren Ladenregalen stehen hatten, war mit wenigen Ausnahmen immer von erster Güteklasse. Das sagten zumindest die Produktetiketten. Hin und wieder gab es sogenannte "Raffinate" (die in Wahrheit Gemische aus raffinierten und nativen Olivenöl waren und vor allem zum Kochen angepriesen wurden). Kein Händler hätte es sich aber je vorstellen können, ein Olivenöl der zweiten Güteklasse zu listen - denn, das würde ja kein einziger Kunde nachfragen. Und die Kundennachfrage ist das, was schlussendlich zähle, so die Retailer unisono.
«Olivenöl Vergine? Diese Option ist mit unseren Qualitätsansprüchen unvereinbar.»
- Pierluigi Tosato, in seiner damaligen Funktion als Exekutiv-Präsident von Deoleo S.A.
Eben doch: Die Idee überdauert alle Zweifler
Ende April 2018 fragte ich den damaligen Executive Chairman des weltgrössten Olivenölabfüllers Deoleo S.A., den Venezianer Pierluigi Tosato, im Rahmen meines Interviews "Wie weiter mit Bertolli & Co?"[1], ob die Einführung von normalen "Vergine"-Olivenölen für den Weltmarktführer Deoleo eine valable Lösung sein könnte. Der international gefeierte Food-Manager, der schon Bolton Foods (Rio Mare Thunfisch) oder Acqua Minerale San Benedetto geführt hatte, erwiderte trocken: «Diese Option ist mit unseren Qualitätsansprüchen unvereinbar.»
Der Rest ist Geschichte, könnte ich nun hierhinschreiben. Ich finde jedoch, dass Sie eben genau diese Geschichte der Entwicklung des Marktes im Detail kennen sollten. Sie ist nämlich sehr vielversprechend und kann rein theoretisch über viele andere Produktgruppen oder Branchenzweige gelegt werden, die schon lange nach einer Veränderung krächzen, diese aber aus Angst oder Ignoranz der verantwortlichen Entscheidungsträger bislang nie erfahren konnten.
Pierluigi Tosato, der Mann, der den Olivenöl-Koloss Deoleo in selbstloser Art und Weise aus der Abwärtsspirale gerissen, den Olivenölmarkt als Suizid-Modell bezeichnet, zur Rettung von Deoleo konsequent nach Qualität gestrebt und dabei der Firma eine neue DNA zu verpassen versucht hatte, wurde im Frühjahr 2019 als CEO gefeuert [2], nachdem das Unternehmen 2018 aufgrund von zahlreichen bereinigten Altlasten ein Minus von 291 Millionen Euro geschrieben hatte [3]. Tosato verblieb bis Ende November desselben Jahres noch im Verwaltungsrat des Ölgiganten [4] und half dem Unternehmen, das mittlerweile vor einem riesigen Schuldenberg in der Höhe von 575 Millionen Euro stand, eine Einigung mit den Banken zu erzielen, was den weiteren Fortbestand des Unternehmens ermöglichte [5]. Nach Abschluss dieser Mission nahm Tosato das Mandat als Stiftungsrat bei der in Luzern ansässigen IOF - International Olive Foundation an.[6]
Dieses Amt innehabend machte Tosato bei der Veröffentlichung der Resultate der bisher grössten und komplettesten Olivenölstudie der Welt, die zutage förderte, dass von 184 als "Extra Vergine" gekennzeichneten Olivenölen lediglich 21 % diese Qualitätsauslobung verdienten, folgende Aussage [7]:
«Die enttäuschenden 21% der ermittelten Proben, die nachweislich als natives Olivenöl extra gelten, stellen nach meiner Erfahrung die tatsächliche Produktionsmenge in den wichtigsten Olivenöl produzierenden Ländern dar. [..] Es ist nur fair, wenn wir beginnen, den Grossteil des angebotenen Olivenöls als das zu bezeichnen, was es wirklich ist, nämlich natives Olivenöl oder einfacher ausgedrückt "Vergine". "Extra Vergine" ist und bleibt eine Seltenheit.»
- Pierluigi Tosato, heutiger Stiftungsrat IOF - International Olive Foundation
Tosato, der tiefen Einblick in die Industrie hat, muss es wissen. "Extra Vergine" ist eine Seltenheit. Man findet es kaum, weil kaum jemand echtes "Extra Vergine" zu produzieren im Stande ist. Schuld daran ist nicht unbedingt fehlendes Know How, sondern der krasse Preisdruck, der vom Handel ausgeht. Ohne Geld keine Qualität, das ist eine einfache Gleichung! Kaum zu glauben deshalb, dass gerade das Olivenöl M-Budget, welches bei Migros bis zum Frühling 2018 den Preiseinstieg markierte, von bester Qualität hätte sein sollen. Migros muss irgendwann zum Schluss gekommen sein, das Produkt zu deklassieren und neu nur noch als Vergine anzubieten. Wahrscheinlich hat Entscheid der grössten Schweizer Warenhauskette, Manor, ebenfalls ein Olivenöl in der Güteklasse nach unten zu stufen [8], den orangen Detailhandelsriesen vom Zürcher Limmatplatz dazu bewogen, nachzuziehen und als erster wirklich grosser Händler ein "Vergine" Olivenöl einzuführen [9]. Offensichtlich mit Erfolg. Seit bald drei Jahren fehlt das Wort "Extra" auf der günstigen M-Budget-Einliter-Plastikflasche.
Vergine darf fehlerhaft sein. Aber nur bis zu einer gewissen wahrnehmbaren Intensität.
Für den Markt ist das gut, führte diese Abstufung doch zu einer gewissen Entspannung. Die Preisdifferenz vom günstigsten zum teuersten von Migros gelisteten "Extra Vergine" wurde durch die Einführung des "Vergine" Olivenöls deutlich kleiner. Aber auch für die Migros selber ist die Listung des "Vergine" Olivenöls ein kluger Schachzug, darf sie nun ganz offiziell sensorisch fehlerhaftes Olivenöl einkaufen. Bei "Vergine" Olivenölen sind leichte bis mittelschwere sensorische Mängel nämlich erlaubt.[10] Migros nützt das grosszügig aus. Zu grosszügig, wie bewiesen wurde. In der oben zitierten IOF-Studie zur Olivenölqualität im Schweizer Detailhandel wurde unter anderem auch das M-Budget "Vergine" Olivenöl untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass das Migros-Billig-Öl zum Testzeitpunkt so stark fehlerhaft war, dass gar der Aufdruck "Vergine" zum Etikettenschwindel verkam. M-Budget wäre der Kategorie "Lampantöl" zuzuordnen und deshalb für die menschliche Ernährung ungeeignet gewesen.[11]
Coop optimiert Aufmachung
Migros' grösste Konkurrentin, die Coop Genossenschaft aus Basel, hat nun ebenfalls ein "Vergine" Olivenöl im Angebot. Sie hat dafür aber kein "Extra Vergine" geopfert, sondern ein Produkt der fünften Güteklasse gegen das neue "Vergine" ausgetauscht. Der Anspruch Coops ist offensichtlich. Sie will erstens keine Nachzüglerin sein und zweitens schon gar nicht schlechter dastehen als Migros. Angekündigt hat Coop diesen Schritt aber freilich schon längst. Vor einigen Jahren schon verriet mir der damalige Olivenöleinkäufer bei Coop, dessen Namen ich hier nicht nennen soll, weil Rodrigo Wangler ja noch lebt, anlässlich der Preisverleihung des Olive Oil Award des Schweizer Olivenöl Panels an der ZHAW, dass Coop bald ein "Vergine" Olivenöl bringen werde. Solche marktrelevante News erfährt man stets in Wädenswil beim Schweizer Olivenöl Panel, an jenem Ort, an welchem - wie ich glaube - zwischen Produzenten, Händlern und Grossverteilern Pläne geschmiedet und Absprachen getroffen werden. Sei es drum, in Sachen "Vergine" hat es bei Coop nun doch etwas gedauert, wie ich finde.
Aber immerhin, nun ist es da. Coop hat mit Migros gleichgezogen. Zunächst hat Coop das neue "Vergine" Olivenöl allerdings in heller Petflasche gelistet und die Deklaration nicht wie von der Verordnung gefordert angedruckt, dann aber nachgebessert und zu einer abgedunkelten und leicht moderner anmutenden Petflasche gewechselt und die Deklaration angepasst. Ausserdem schützt nun ein pinkfarbener Verschluss den Inhalt. Kommt irgendwie hübsch daher und gefällt mir besser als die M-Budget-Verpackung.
Inhaltlich sind die beiden Grossverteiler-Öle jedoch, so komme ich nach meiner persönlichen Beurteilung zum Schluss - ähnlich schlecht. Sie beide verdienen die Bezeichnung "Vergine" nach meinem Dafürhalten nämlich schlicht und einfach nicht. Wie Migros hat auch Coop meiner Einschätzung nach anstelle eines Vergine-Olivenöls ein Lampantöl abfüllen lassen. Das spart natürlich Kosten. Würde man es genau nehmen und das geltende Gesetz [12] zur Anwendung bringen, nennte man diese Praxis "Etikettenschwindel".
Von Etikettenschwindel wollen die beiden grossen Detailhändler der Schweiz aber nichts wissen.
Bei Migros werde kein anderes Produkt so genau geprüft wie Olivenöl. Migros-Sprecher Marcel Schlatter sagte anlässlich der Resultatveröffentlichung des grössten Olivenöltests aller Zeiten gegenüber dem Konsumentenmagazin Espresso von SRF [13] das Folgende (Bildschirmaufnahme SRF Espresso):
Keine Frage, es ist als Fortschritt zu betrachten, dass die Grossverteiler bereit sind, ihre günstigsten Olivenöle als "Vergine" OIivenöle auszuzeichnen und entsprechend auch vom Anspruch Abstand nehmen, alles müsse stets der ersten Güteklasse angehören. Das ist ein wesentlicher Schritt in die richtige Richtung. Nun fehlt es nur noch an der korrekten und konsequenten Umsetzung, was so viel heisst, dass als "Vergine" deklarierte Olivenöle in Tat und Wahrheit nicht "Lampantöl" sein dürfen.
Eines ist aber heute schon klar: Mit dem Umetikettieren von minderwertigen Ölen von "Extra Vergine" zu "Vergine" laufen die Händler weniger Gefahr, von den kantonalen Lebensmittelbehörden geprüft zu werden. So dürften diese Produkte auch bei der jüngsten, national organisierten Kontrollkampange mit dem Namen "Gottardo", deren Ergebnisse mit Spannung erwartet werden dürfen, vor einer Prüfung sicher sein. Gut für Migros und Coop. Shit happens für die Konsumenten.
Quellenangaben
Comments